Im März 1978 kündigten die HENRY COW ihre Auflösung an. Ihr Schritt hatte mehrere Gründe, u.a. sie spielten eine stetig experimentellere, improvisierte Musik, die auch für HENRY COW - gewohnte Ohren nicht selten eine Überforderung darstellte. Jegliche Kompromisse lehnten sie ab und über die Fortführung ihrer Musik waren sich allerdings nicht alle einig; es gab Auseinandersätzungen um das Material der nächsten Platte, die sie im Januar 1978 in Kirchberg / Schweiz (Sunrise Studio) einspielten. Das Resultat dieser Aufnahmen wollte die Gruppe nicht unter ihrem Namen veröffentlichen.


Live '75. Von links: Leigh, Hodgkinson, Blegvad, Krause, Greaves, Cutler, Frith.

Ihre schlechte finanzielle Lage schrieben sie der Musikindustrie zu. Sie bezichtigten sie der Ausbeutung und des Ausverkaufs der Musik (!) und haben diese Erkenntnis nicht nur in Texten umgesetzt, sondern in der bewussten Abwendung von der gesamten Musikindustrie. Im März '78 spielten sie mit UNIVERS ZÉRO (Belgien), ETRON FOU LEEOU-BEAN (Frankreich), STORMY SIX (Italien) und SAMLA MAMMAS MANNA (Schweden) auf dem ersten "Rock In Opposition" - Festival in London. "RIO" ist ein weiterer Ausdruck des Kampfes der HENRY COW (bzw. zweier ihrer Mitglieder: Chris CUTLER und Nick HOBBS, der seit 1977 den administrativen Teil der Geschäfte managt) um ihre Unabhängigkeit von der Industrie und für die Organisation alternativer Produktion und Distribution.

"Rock In Opposition" ist ein Versuch, die unkoordinierten Aktivitäten einzelner Gruppen oder Kooperativen auf einen Nenner zu bringen, d. h. Erfahrungen (über Produktions- und Distributionsmöglichkeiten) auszutauschen und in einer Art gegenseitiger Selbsthilfe die Interessen der jeweils anderen Gruppen in ihrem Land zu vertreten. CUTLER und HOBBS initiierten im März Recommended Records, einen Schallplattenversand, über den sie Platten nicht von der Industrie vereinnahmter Gruppen vertreiben.

Von Ende März bis Ende Juli tourten HENRY COW wieder, in Skandinavien mit Frankie ARMSTRONG und der MlKE WESTBROOK BRASS BAND und in Spanien bzw. Frankreich mit Phil MINTON (Trompete). In Paris setzten sich nach langen Diskussionen über ihre Musik und Zukunft Lindsay, Georgie und Jack (ihr Soundengineer) nach London ab. Fred, Chris und Tim setzten die Tournee mit Phil MINTON und Maggie NICHOLS fort. Daran anschließend erarbeiteten sie in London ein neues Programm, das sie auf ihrer letzten Tournee vorstellten - unterstützt von Gästen wie Yoshk'o SEFFER (magma) (Saxophon), Henry KAISER (Gitarre) und Anne Marie ROELOFS (Posaune, Violine). Mit ihr spielten sie ihre letzten Auftritte und im Juli/ August wiederum im Sunrise Studio ihre LP "Western Culture" ein, die nur Instrumentalmusik enthält. Tim und Lindsay haben alle Stücke komponiert.


"File Under Popular" Buch von Chris Cutler, "Industry-1978 London" Bootleg-CD.

Tournee und Platte waren die letzten Aktivitäten der Gruppe unter dem Namen HENRY COW. In der Folge begannen sie neue bzw. setzten sie begonnene Projekte fort. Lindsay, Georgie und Maggie NICHOLS arbeit(et)en mit den WOMEN's IMPROVISING GROUP. Lindsay und Georgie spielten außerdem einige Monate bei NATIONAL HEALTH. Und Chris, Fred und Dagmar nahmen im November/Dezember als ART BEARS ihre "Wintersongs" auf.

Die Auflösung der HENRY COW war nicht das Ende einer wichtigen experimentellen Rockgruppe, sondern die Geburt neuer, nicht weniger interessanter Formationen.

Autor: Andy Ortmann, "Rocksession Nr3", Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH 1979.