QAWWALI
Die Mystik des Islam, der
Sufismus, hatte ihre Voraussetzungen in den asketischen und
kontemplativen Tendenzen des Propheten Mohammed. Genau wie die
christliche und die jüdische Mystik erscheint auch der
Sufismus teils in einer spekulativen Form, teils als
emotionale Liebes-Mystik. Da die Ekstase, das "Außersiechsein"
des Menschen als Höhepunkt religiöser Erfahrung gilt, haben
sich die Mystiker vieler Religionen um ihre Vorbereitung und
Ausübung bemüht. Der Sufismus unterscheidet zwischen wagt, der
plötzlichen, als Gnade geschehenden Ekstase und tawâgud,
dem sich-in-Ekstase-zu-versetzen-Suchen. Dies kann z.B. durch
den Tanz oder die ständige Wiederholung einer religiösen
Formel geschehen. Es entsteht ein Zustand, der jenseits der
reihenmäßig ablaufenden Zeit liegt, in dem in einem
Erkenntnisakt die Fülle der Zeiten, das "Ewige Jetzt",
erfahren wird.
Nusrat Fateh Ali Khan mit seinen Mitstreitern
den sog. "Party"
live.
Die musikalischen Wurzeln des
Sufismus liegen in der traditionellen Rezitation des Koran.
Seit dem 8. Jahrhundert entwickelte sich eine Schule des
Koranvortrags, die sich von den traditionelle Formen immer
mehr entfernte und einen eigenen, künstlerisch und
gesangstechnisch verfeinerten Still entwickelte: qira' a
bi-l-alhan, der Vortrag mit weltlichen Melodien. So ließ
der Koranleser des Kalifen HARUN AL-RASHID (786-809), nach
zeitgenössischen Berichten, den Koran wie ein klassisches
Kunstlied erklingen.
Musik ist das Mittel um bei Musikern und Zuhörern einen
ekstatischen Zustand herbeizuführen; ihr Bewusstsein zu
erweitern. Das Wissen um die magischen Kraft der Musik und den
Klang als Urschöpfungsprinzip wurden auch in den Schulen des
islamischen Sufismus in Indien gelehrt. Der dort ausgebildete
Qawwal bringt durch die Kraft und die Virtuosität seines
Gesangs sich und die Zuhörer näher zu Gott. AMIR KHUSRAW, der
berühmte indo-iranische Sufi-Poet führte Qawwali ca. 1300 am
Hof der Sultane DHELI ein. Heutige Qawwals führen ihre
Musikerdynastien bis auf diesen offiziellen Begründer des
Qawwali zurück. Der Sufismus kennt Persönlichkeiten, denen
karâmât (Charismata) zugeschrieben werden, z.B. die Gabe,
sich von einem Ort an einen anderen, weit entfernten zu
versetzen. Diese Wunder werden als Zeichen der Heiligkeit
verstanden. Qawwali-Musik wurde und wird bis heute
traditionsgemäß vor allem anlässlich des Geburtstags eines
solchen Sufi pir (Heiligen) aufgeführt.
Das Qawwali-Repertoire umfasst drei Hauptgattungen:
a)
Ghazal: Improvisationen über einen Text in Urdu / Persisch
der die menschliche oder mystische Liebe besingt. In Sufismus
existiert eine ausgesprochene Liebesfrömmigkeit, welche die
selbstlose Liebe zu Allah fordert und übt. Die Liebe ist hier
Station auf dem Weg zu Gott und gleichzeitig auch das Ziel.
Aus der Liebe zu Allah erwächst die Nächstenliebe.
b)
Tarana: Schnelle rhythmische Improvisationen über
Textsilben die manchmal keine äußere Bedeutung besitzen,
manchmal der Sufi-Mystik entnommen sind.
c) Hamd/na't/manqabat:
Hymnen über den Propheten Mohammed oder seine Jünger.
Musikalisch ist Qawwali stark
von der indisch-klassischen Musik des 18. 19. Jahrhunderts
beeinflusst: Im Qawwali wechseln sich Gruppen- und Sologesang
in schneller Folge ab, begleitet von Trommeln (Tabla und
Dholak), Händeklatschen des Chors und dem durchdringenden
Klang des Harmoniums; übernommen von den englischen
Missionaren des 19. Jahrhunderts. Die rhythmisch klaren
Refrains rahmen die freien Improvisationen des Solosängers
ein. Diese sind von virtuosen Koloraturen und ständigen
Wiederholungen einzelner Textpassagen. Bestimmt: beides soll
den Zustand der Ekstase herbeiführen. Verschiedene Melodien
werden vom Hauptsänger und seinen Begleitern ohne vorherige
Absprache eingeführt; sie dienen als Basis für ausgedehnte
(ca. 30 Minuten) Improvisationen und können sehr
unterschiedlichen Ursprung haben: klassische indische Ragas
werden ebenso benützt wie Volksmelodien oder Elemente moderner
Popmusik. Diese Besonderheit der musikalischen Form macht den
Qawwali zu einer einzigartigen Musikform, denn durch die
bereits traditionell vorgegebene Möglichkeit, ständig neue
Melodien zu übernehmen, verliert Qawwali niemals seine
traditionelle Bodenständigkeit, kann sich aber doch ständig
erneuern, aktualisieren und entgeht damit der Gefahr zu
erstarren.
Einzigartig ist auch die Form des Zusammenspiels der einzelnen
Musiker in der Gruppe. Das Ensemble ist streng hierarchisch in
Perkussionisten, Chorsänger, den Instrumentalsolisten und
seinen Begleiter (beide am Harmonium), Neben- und Hauptsänger
organisiert. Der Hauptsänger gibt durch ein komplexes
Repertoire von Handbewegungen die von ihm begonnene
improvisierte Melodielinie an einen der Nebensänger (meist
sind es seine Meisterschüler) ab, der sie abschließt, an den
Instrumentalisten weitergibt, oder sie in den Refrain münden
lässt. Blitzschnelle Reaktionen und Dialoge innerhalb der
Gruppe führen zu einem immer dichter werdenden Netz von
virtuosen Improvisationen, in dem Musiker und Zuhörer
gleichermaßen eingeschlossen mitgerissen werden.
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