ELEGANZ MIT WIDERHAKEN
BELGISCHE MUSIQUE NOIR
"... Die Augen haben alles vergessen, wie
Nachtschmetterlinge: die schwarzen Ecken, die kalten Scheiben, den Regen
draußen, Wind und Winter, die Glocken, die den Tod der Stunden künden - nur im
engen Lichtkreise der Lampe schwärmen sie. Vollständiges Vergessen! Neubeginn!
Die Zeit rauscht sanft dahin, in einem Flussbett ohne Steine... Und es ist, als
gehörte man im Leben schon der Ewigkeit an."
Zitat aus: Georges RODENBACH, "Bruges-la-morte", 1892.
Univers
Zero live mit
Art Zoyd in Nancy "Jazz Pulsations"
06.10.1980. Von links: Guy Segers (b),
Thierry Zaboitzeff (cello) und Daniel Denis (dr).
Bonjour malaise musical! Belgien, Heimstatt der
Masken, grimassierender Verrenkungen, schauriger Abgründe, fluchbeladener
Heiligkeiten, modrigen Vergessens, berstender Geheimnisse, widerspenstiger
Liebeserklärungen. Wo sonst hätte es geschehen sollen: Eine Handvoll wagemutiger
Belgier taten Mitte der siebziger Jahre Klangkammern auf, die den Akt des
Musizierens zielstrebig in die Spurrillen des Diabolischen rückten. Das
Vermächtnis der Art-Rock-Gruppe UNIVERS ZERO ist tönender
Spiegel jenes Belgien, das der aufgeklärten, sauberen, regierbaren Welt seit
jeher abhanden gekommen ist.
UNIVERS ZERO hinterließen einer Hörerschaft, die sie nie
beachtet hat, ein verwunschenes, verhextes œuvre-au-noir mit vielfältigen
Hintergründen, gespenstische Maskenspiele im Niemandsland zerbrochener Ängste.
James ENSOR, jener große belgische Maler, der das Volk der Masken manisch und
unauslöschlich festhielt, grüßte 1911 die biederen Mitläufer:
"Schließlich habe ich mich, von meinen Nachfolgern
gejagt, heiteren Sinns in der einsamen Mitte verschanzt, wo die ganz aus Gewalt,
Licht und Glanz bestehende Maske thront. Die Maske sagte mir: 'Frischer Ton,
durchdringender Ausdruck, prunkvolle Ausstattung, unvermutete Gebärden, wirre
Bewegungen, köstliche Ausgelassenheit."
Daniel Denis
in einer Nachaufnahme aus dem gleichen Konzert.
War es bei ENSOR die "einsame Mitte", so
erkundeten die wagemutigen UNIVERS ZERO die einsamen Winkel,
die aus der Zeit herausgefallen sind, folgten den Neigungen und Biegungen der
Morbidezza, steuerten jene schattenhaften Wegegabelungen an, wo vergilbte,
umkippende Idyllen der Starre erkaltenden Bruitismus Nahrung geben, gewalttätige
Urregungen mit nebelfarben giftschillernden Schlingpflanzen umspinnen.
Schlagzeuger Daniel DENIS und Gitarrist Roger TRIGAUX waren die Köpfe der frühen
UNIVERS ZERO, deren depressiven Phantasien zunächst ein mit
dem doppelten Unglückssignet "1313" versehenes Album entspross. Wovon KING
CRIMSON oder GENTLE GIANT zu besten Zeiten träumten, das vollführten die sieben
belgischen Samurai einer neuen musique-noir-Kultur auf Anhieb: Kammermusik für
ins Desolate Fortgeschrittene, 11er- und 13er-Takte aus dem Gruselkabinett
zwischen subtilem Kalkül, stilisierter Panik und konzertant-ironischem Pathos
mit Fagott, spröden Geigen und Bratschen, Taschencello, Spinett, Harmonium und
Üblicherem.
Von links: Michel Berckmans (basson), Patrick Hanappier
(violine, sitzend),
Thierry Zaboitzeff (bass, Art Zoyd)
und William Schott (cello).
Finster, finster... Das klingt, als entstiegen die
Instrumente, nachdem die Musiker nach Hause gegangen sind, ihren Kästen und
Etuis und tobten sich aus, grazil und gewalttätig, perfekt, vertrackt, grundböse
- einen postmittelalterlichen Totenreigen nach dem anderen exerzierend. Titel
wie "Docteur Petiot" oder "Malaise" sagten das ihre dazu. Zeit also für
Hexenauferstehungen, und die "Carabosse" - so der Name des folgenden Stücks -
war eines jener abseitigen buckligen alten Märchenweiber, vor denen man sich
fürchtet, die man meidet.
Der Komponist von "Carabosse", Schlagzeuger Daniel DENIS, hat mit sechzehn
Jahren die Schule verlassen und nie offiziell Musik studiert. Auch mit dem
Notenlesen hat er es nicht weit gebracht. Es geht eben auch anders. Natürlich
verdankten UNIVERS ZERO eine ganze Menge den KING CRIMSON
von 1973/74, zudem Frank ZAPPA, HENRY COW
um Fred FRITH und dem Canterbury-Milieu. Überdies hat man ihnen Einflüsse von
BARTÓK, STRAVINSKI und frühem PROKOFJEW gutgeschrieben, und Daniel DENIS hat
sich für Charles IVES begeistert.
Guy Segers ( hier
mit Bart) spielt nicht nur Bass. Während der Studioaufnahmen zu der legendären Platte "Heresie"
hat er sich kurzfristig entschlossen auch zu singen.
Aber die Wurzeln von UNIVERS ZERO
liegen im Verborgenären. Viele ihrer Stücke folgen erstaunlichen polyphonen
Bestrebungen, und Polyphonie hat viel früher eine unvergleichliche Tradition im
holländisch-belgisch-französischen Raum gezeugt - man denke an Guillaume de
MACHAUT, Guillaume DUFAY, Johannes OCKEGHEM, Josquin des PRÉS, Pierre de LA RUE
oder Nicolas GOMBERT. Doch die polyphon verschlungene Kunst überlebte sich.
Einen Höhepunkt hatte sie in der kombinatorischen Freiheit Johannes OCKEGHEMS
erreicht.
Nichts dürfte UNIVERS ZERO im Geiste - und gelegentlich auch
in der Umsetzung - näher gerückt gewesen sein als die widerhakige Eleganz Albert
ROUSSELS, jene mutwillige Widerborstigkeit, die so grazil formuliert sein kann,
dass man an Walzer tanzende Geckos, Schneckengalopps oder Feldzüge bis an die
Schnäbel bewaffneter Kolibris denken darf. Ein anderer Vorfahre - ein bis heute
missachteter, vergessener - schrieb 1919-20 seine zweite Symphonie, "Prélude à
la nouvelle journée": der Holländer Matthijs VERMEULEN, der allen Ernstes alte
Hoketus-Techniken mit modernsten Ausdrucksmitteln in nie gehörter Weise
verknüpfte - auch sein Werk, das sieben Symphonien umspannt, blieb ein
Seitenpfad der Musikgeschichte.
Hier ein relativ unbekannter
Cellist von Univers Zero:
William Schott. Unbekannt, weil er nie auf einer Platte zu
hören ist.
Ohne die Kenntnisse, ohne die subtilen Fähigkeiten
ihrer Vorgänger eroberten sich UNIVERS ZERO einen in
Kernfaçetten von Ausdruck und technischem Bedarf verwandten Raum, wobei sie die
hellen, klaren Visionen zur Ausnahme erklärten und sich intensiv dem düsteren,
schaurigen Spektrum zuwandten. Am weitesten, erbarmungslosesten führte die Reise
in die Dunkelheit auf dem 1979 verfertigten zweiten Album,
"Heresie".
"Heresie" von UNIVERS ZERO: Drei
Grenzgänge in diabolische Regionen, die in der bildhaften, überzeichneten
Sprache beispiellos sein dürften(!): die Maske des Todes, die Pranken des
Mörders, das Antlitz der Folter. Drei schwarze Monster, anspruchsvoll
Hartgesottenen zum nächtlichen Hausgebrauch gebraut.
"Sie schlug ein grausames Gelächter an und zeigte ihre weißen Raubtierzähne, die
zum Beutemachen geschaffen waren." So beschreibt Georges RODENBACH in "Bruges-la-morte"
den dreisten Triumph Janes, der zugleich ihr Verhängnis wird. James ENSOR
prophezeite: "Lauthalse Aufgeblasenheit endet wie beim Frosch im Zerplatzen."
Wohin die Obsession führen kann, davon spricht die zentrale Phase einer an den
Nervensträngen ätzenden Roger TRIGAUXs Komposition mit dem unmissverständlichen
Titel "Jack the Ripper". Was sich in der nun vorzustellenden Szene auf der Basis
eines 13/8-Ostinatos abspielt, bedarf keiner Einführung. Der Bogen ein Messer.
Hier in einer
Nahaufnahme der Schnurbart von Patrick Hannapier.
Tagebucheintrag eines Wahnsinnigen: "Jack the
Ripper", bei der Arbeit beobachtet von der belgischen Gruppe
UNIVERS ZERO. Symbolismus und Realismus gehen in Belgien schon lange Hand in
Hand, Günter METKEN spricht von der Inspiration durch flämische Mystik und den
Herbst des Mittelalters und davon, dass Georges RODENBACHS 1892 verfasste
Erzählung "Bruges-la-morte" ("Das tote Brügge") zum Symbol des Dekadenzgefühls
in ganz Europa wurde. Hugo VIANE umgibt in "Bruges-la-morte" seine verstorbene
Frau mit allgegenwärtigem Reliquienkult. Da tritt eine Doppelgängerin auf: Jane
- der Toten beinahe gleich, lediglich niederträchtiger geraten. Der Versuch der
Angleichung der Lebenden an die Tote scheitert, muss also im Tod vollzogen
werden.
Todesschwaden durchziehen die ganze Erzählung, verleihen ihr die bleiche, harte
Grundfarbe hinter der Melancholie aus Nieselregen-Schleiern. Die düstere
Atmosphäre des toten Brügge (die übrigens Korngold in seiner Oper "Die tote
Stadt" einzufangen versuchte), die Enge der gärenden Emotionen, die
Unvermeidlichkeit des Eskalierens, die stagnierende, bröckelnde Zeit, die alles
umschleiernde Dunkelheit - nichts entspricht den in "Bruges-la-morte"
angesprochenen Empfindungen und Zuständen so unmittelbar wie die Klangwelt von
UNIVERS ZERO.
François Cardon
(violine, stehend), Gerard
Hourbette (violine, sitzend) und im Hintergrund Jean Pierre Soarez
(trompete).
Das sind alle Musiker Art Zoyd, die an diesem Tag gemeinsam
mit Univers Zero in Nancy spielten.
Sogkräfte pflegeintensiven Unwohlseins mit Methode
lauern in der Komposition "Vous le saurez en temps voulu" geschrieben ebenfalls
von Gitarrist Roger TRIGAUX, einer Musik für Instrumente als Hauptagierende, die
uns skrupellos zu schmeicheln und zu peinigen verstehen, die sich die Seelen der
Musiker nur ausgeliehen haben, um übereintönen zu können.
UNIVERS ZERO, das ist musique noir aus dem Herzen des künftigen Europa, ein
zeitversetztes Spektakel in geschlossenen Räumen E.T.A. Hoffmannscher Szenerien.
Im geschlossenen Raum endet auch "Bruges-la-morte". In ihrer Rohheit hat Jane
die Haarflechte der Verstorbenen aus dem geheiligten Glasschrein gerupft:
"Sie war tot... Die beiden Frauen waren wieder zu
einer verschmolzen... Im Tode waren sie sich doppelt ähnlich. Der Tod hatte die
nämliche Blässe auf beide gelegt; sie waren fortan nicht mehr zu unterscheiden;
sie waren das zweieinige Gesicht seiner Liebe. Janes Leiche war das Gespenst der
Toten von damals und für ihn allein sichtbar... Die Stadt war wieder verödet.
Und Hugo sprach immerfort vor sich hin: "Tot, tot... Tote Stadt..."
Wie in Bleiglas gegossene Wehmut schwingt jene schwere Elegie von
UNIVERS ZERO, die von 1981 stammt: "La tête du corbeau". Der
Rabe als Symbol von Einsamkeit und Grauen. Die Gewänder der Schattenwelt singen
ein letztes, fahles Lied in kräftigen, dunklen Farben.
Autor: Christoph Schlüren, im April 1997. R.K. dankt
Guy Segers für seine unschätzbare Hilfe.
So endete der erste Teil des
Konzerts. Musiker Univers Zero verlassen die Bühne.
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